Advanced Chemistry „Fremd im eigenen Land“ – 2015-04-15

Advanced Chemistry „Fremd im eigenen Land“ von 1992

Siehe auch: https://www.freitag.de/autoren/ypa/advanced-chemistry-fremd-im-eigenen-land

Ich habe einen grünen Pass mit ’nem goldenen Adler drauf
dies bedingt, dass ich mir oft die Haare rauf
Jetzt mal ohne Spass: Ärger hab‘ ich zu Hauf
obwohl ich langsam Auto fahre und niemals sauf‘
All das Gerede von europäischem Zusammenschluss
fahr‘ ich zur Grenze mit dem Zug oder einem Bus
frag‘ ich mich warum ich der Einzige bin, der sich ausweisen muss,
Identitдt beweisen muss!
Ist es so ungewцhnlich, wenn ein Afro-Deutscher seine Sprache spricht
und nicht so blass ist im Gesicht?
Das Problem sind die Ideen im System:
ein echter Deutscher muss auch richtig deutsch aussehen,
blaue Augen, blondes Haar keine Gefahr,
gab’s da nicht ’ne Zeit wo’s schon mal so war?!
„Gehst du mal spдter zurьck in deine Heimat?“
‚Wohin? nach Heidelberg? wo ich ein Heim hab?‘
„Nein du weisst, was ich mein…“
Komm lass es sein, ich kenn diese Fragen seit dem ich klein bin
in diesem Land vor zwei Jahrzehnten geborn‘
doch frag‘ ich mich manchmal, was hab‘ ich hier verloren!
Ignorantes Geschwдtz, ohne End
dumme Sprьche, die man bereits alle kennt
„Eh, bist du Amerikaner oder kommste aus Afrika?“
Noch ein Kommentar ьber mein Haar, was ist daran so sonderbar?
„Ach du bist Deutscher, komm erzдhl kein Scheiss!“
Du willst den Beweis? Hier ist mein Ausweis:
Gestatten sie mein Name ist Frederik Hahn
ich wurde hier geboren, doch wahrscheinlich sieht man’s mir nicht an,
ich bin kein Auslдnder, Aussiedler, Tourist, Immigrant,
sondern deutscher Staatsbьrger und komme zufдllig aus diesem Land,
wo ist das Problem, jeder soll gehn‘ wohin er mag,
zum Skifahren in die Schweiz, als Tourist nach Prag,
zum Studieren nach Wien, als Au-Pair nach Paris ziehn,
andere wollen ihr Land gar nicht verlassen, doch sie mьssen fliehen
Auslдnderfeindlichkeit, Komplex der Minderwertigkeit,
ich will schockieren und provozieren,
meine Brьder und Schwestern wieder neu motivieren,
ich hab schon ’nen Plan,
und wenn es drauf ankommt, kдmpfe ich Auge um Auge, Zahn um Zahn,
ich hoffe die Radiosender lassen diese Platte spielen,
denn ich bin kein Einzelfall, sondern einer von vielen.
Nicht anerkannt, fremd im eigenen Land,
kein Auslдnder und doch ein Fremder.
– Refrain –

Ich habe einen grьnen Pass mit ’nem goldenen Adler drauf,
doch mit italienischer Abstammung wuchs ich hier auf.
Somit nahm ich Spott in kauf
in dem meinigen bisherigen Lebensablauf.
Politiker und Medien berichten ob frьh oder spдt
von einer „ьberschrittenen Aufnahmekapazitдt“.
Es wird einem erklдrt, der Kopf wird einem verdreht,
dass man durch Auslдnder in eine Bedrohung gerдt,
somit denkt der Bьrger, der Vorurteile pflegt,
dass fьr ihn eine grosse Gefahr entsteht
er sie verliert, sie ihm entgeht,
seine ihm so wichtige deutsche Lebesqualitдt,
leider kommt selten jemand, der frдgt,
wie es um die schlechtbezahlte, unbeliebte Arbeit steht.
Kaum einer ist da, der ьberlegt, auf das Wissen Wert legt,
warum es diesem Land so gut geht,
dass der Gastarbeiter seit den 50ern unentwegt
zum Wirtschaftsaufbau, der sich blьhend bewegt,
mit Nutzen beitrug und noch beitrдgt,
mit einer schwachen Position in der Gesellschaft lebt,
in Krisenzeiten die Sьndenbockrolle belegt,
und das eigentliche Problem, dass man ьbergeht,
wird einfach unauffдllig unter den Teppich gefegt.
Nicht anerkannt, fremd im eigenen Land.
Kein Auslдnder und doch ein Fremder.

– Refrain –

Ich habe einen grьnen Pass mit ’nem goldenen Adler drauf,
doch keiner fragt danach, wenn ich in die falsche Strasse lauf
„Komm, dem hau’n wir’s Maul auf!“
Gut dass ich immer schnell war beim Hundertmeterlauf.
Gewalt in Gestalt einer Faust, die geballt
oder ’nem blitzenden Messer, ’ner Waffe die knallt,
viele werden behaupten, wir wьrden ьbertreiben,
doch seit zwanzig Jahren leben wir hier und sind es leid zu schweigen.
Pogrome entstehen, Polizei steht daneben,
ein deutscher Staatsbьrger fьrchtet um sein Leben,
in der Fernsehsendung die Wiedervereinigung,
anfangs hab‘ ich mich gefreut, doch schnell hab‘ ich’s bereut,
denn noch nie seit ich denken kann, war’s so schlimm wie heut!
Politikerkцpfe reden viel, doch bleiben kalt und kьhl,
all dies passt genau in ihr Kalkьl,
man zeigt sich besorgt, begibt sich vor Ort,
nimmt ein Kind auf den Schoss, fьr Presse ist schon gesorgt,
mit jedem Kamerablitz ein neuer Sitz im Bundestag,
dort erlцsst man ein neues Gesetz.
Klar, Asylbewerber mьssen raus,
und keiner macht den Faschos den Garaus!
Dies ist nicht meine Welt, in der nur die Hautfarbe und Herkunft zдhlt,
der Wahn von Ьberfremdung politischen Wert erhдlt,
mit Ignoranz jeder Hans oder Franz sein Urteil fдllt,
Krach macht und bellt, sich selbst fьr den Fachmann hдlt.
Ich bin erzogen worden, die Dinge anders zu seh’n:
Hinter Fassaden blicken, Zusammenhдnge versteh’n
mit Respekt „en direct“ zu jedem Menschen stehen
ethische Werte, die ьber nationale Grenzen gehen
Ich hab ’nen grьnen Pass mit ’nem goldenen Adler drauf,
doch bin ich Fremd hier